Zusammenfassung
»Sie holen dich, sagen ›Nimm zu essen und warme Kleidung mit‹ und bringen dich zum Bus«
In Russland herrschen Chaos und Willkür bei der Einberufung von Reservisten für den Ukrainekrieg. Dem SPIEGEL erzählen sieben Frauen und Männer von ihren Ängsten – und darüber, wie sie sich vor den Behörden verstecken.
Von Alexander Chernyshev und Christina Hebel, Moskau
28.09.2022, 11.12 Uhr
Walerij*, 30 Jahre, aus Nischnij Nowgorod, wohnt in Moskau, hat eine Rechtsberatung
»Sie sind zu meiner Mutter in die Wohnung in Nischnij Nowgorod gekommen, haben ihr persönlich den Einberufungsbescheid für mich in die Hand gedrückt. Ich bin bei meiner Mutter gemeldet, wohne aber in Moskau. Ich sollte mich dann am nächsten Tag gleich um elf Uhr in der Einberufungsbehörde melden, ich habe das aber nicht gemacht. Viele ehemalige Kameraden, mit denen ich gedient habe, wurden gleich zu einem regionalen Armeestützpunkt gebracht, zum Vorbereitungstraining für den Ukraine-Einsatz.
Ich überlege, was ich machen soll, ob es nicht besser wäre, dass ich freiwillig zu meinem ehemaligen Regiment gehe und einen Vertrag als Kontraktnik (Zeitsoldat – d. Red.) unterschreibe. Ich habe als Aufklärer in der Region Moskau gedient. Bei meinen ehemaligen Kommandeuren weiß ich, woran ich bin, da habe ich eine größere Chance zu überleben. Das ist alles eine aussichtslose Situation, ich kann ja rechtlich belangt werden, wenn ich mich entziehe.
Wer weiß schon, ob es bei einer Geldstrafe bleibt, wenn man nicht erscheint, oder ob die Strafen härter werden. Die Lage ist in jeder Hinsicht schlimm, Krieg ist immer schlecht. Ich bin kein Hurrapatriot, aber wenn man vor der Wahl steht, muss man sich für sein Vaterland entscheiden. Ich kann nicht beurteilen, ob es wirklich eine Bedrohung für unser Land gibt. Die Mobilmachung war wohl kaum zu vermeiden, das Gebiet, das in der Ukraine kontrolliert werden muss, ist riesig, die Kräfte reichen nicht aus. Ich habe mir im Internet schon Kleidung und Ausrüstung angeschaut, habe mit einem ehemaligen Kameraden gesprochen, was man für den Einsatz benötigt. Ich habe noch nichts gekauft, ich muss mich beruhigen und abwarten.«
Irina*, 25 Jahre, Moskau
»Mitarbeiter der Militärbehörden haben den Einberufungsbescheid für meinen Mann gleich an dem Tag, als Putin die Mobilmachung verkündet hat, an die Tür seiner Eltern geklebt. Sie leben im Gebiet Tambow (im Süden von Moskau – d. Red.), da ist mein Mann gemeldet. Wir hatten damit nicht so schnell gerechnet. Es ist alles beängstigend. Ich will nicht, dass mein Mann ins Gefängnis kommt. Dass er zur Einberufungsbehörde geht, kommt für uns nicht infrage, wir sind gegen diesen Krieg. Wir hoffen sehr, dass der Arbeitgeber meines Mannes Leute aus dem Register der Einzuberufenden löschen lassen kann. Mein Mann arbeitet als Ingenieur in der Flugzeugbranche, wer soll da noch die Arbeit machen, wenn alle für den Ukrainekrieg eingezogen werden? Ins Ausland können wir so schnell nicht, wir haben einen Hund, eine Katze, benötigen Auslandspässe, Coronaimpfungen, außerdem kostet das alles viel Geld, so große finanzielle Rücklagen haben wir nicht.«
Anton*, 22 Jahre, Kurierfahrer aus Istra, Stadt im Nordwesten von Moskau
»Mich hat unser Bezirkspolizist angerufen, ich kenne ihn. Ich solle zur Polizei kommen, meine Einberufung abholen, sagte er. Ich war schockiert, mische mich nicht in die Politik ein. Ich erkenne diesen Krieg nicht an, halte ihn für eine dumme Entscheidung. Natürlich weiß ich, dass Russland mit Brutalität und Korruption regiert wird. Wir sind uns alle dessen bewusst, aber können nichts dagegen tun, sind durch unsere viele Arbeit, für die wir oft schlecht bezahlt werden, erschöpft. Wir haben keine Zeit, uns mit Regierungsangelegenheiten zu befassen. Meinen Wehrdienst habe ich vor einiger Zeit absolviert, bin Gefreiter, Gewehrschütze.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich zur Polizeiwache gehen soll. Irgendwann bin ich dann gegangen. Ich musste unterschreiben, dass ich die Vorladung zur Einberufung erhalten habe. Noch am selben Tag bin ich zur Militärbehörde. Die Mitarbeiter dort haben mir die Einberufung übergeben, darin stand, welcher Einheit ich zugeteilt werde. Mir wurde befohlen, in einen anderen Raum zu gehen, da sollte eine Besprechung stattfinden, wahrscheinlich wollten sie uns sagen, wohin wir fahren, was wir tun sollen. Ich habe dort mit mehreren anderen Männern lange gewartet.
Ich saß da und hatte große Angst, dass wir jetzt in den Krieg ziehen würden. Irgendwann fragte ich mich: Wozu das alles? Ich fragte einen Typen, ob wir nicht rauchen gehen wollen. Er wollte erst nicht, dachte, es sei verboten, vor die Militärbehörde zu gehen. Ich sagte: Wird schon. Wir sind dann zum Lift. Schon im Aufzug waren wir uns einig, wir hauen ab. Die Männer, die geblieben sind, sind wohl bereits weg. Es gab Gerüchte, dass schon ein Bus auf sie wartete, der sie zur Einheit oder vielleicht auch direkt zur Grenze fahren sollte.
Später rief mich der Bezirkspolizist wieder an und fragte, was passiert sei, ich sagte nur, dass ich auf weitere Anweisungen warten müsse. Ich glaube nicht, dass sie jetzt hinter Leuten wie mir her sein werden. Es ist einfacher für sie, diejenigen an die Front zu schicken, die sich damit abgefunden haben, in den Krieg zu ziehen, die bereits von der Angst zerfressen und auf die versprochenen Zahlungen hereingefallen sind (Putin hat den Einberufenden versprochen, sie wie Zeitsoldaten zu behandeln, die einen weit über den durchschnittlichen Gehältern liegenden Sold bekommen – d. Red.).
Doch irgendwann werden sie dann auch hinter uns her sein (sich der Einberufung nach Erhalt der Dokumente zu entziehen, kann mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden –Red.). Ich habe meinen Job gekündigt, die wollten mich sowieso feuern, damit sie mich nicht weiter bezahlen müssen, während ich kämpfe. Ich überlege jetzt, schwarzzuarbeiten, bei Freunden oder einem Nachbarn zu wohnen, vielleicht woanders eine Wohnung zu mieten. Sie können ja nicht alle Wohnungen durchsuchen. Ich habe Angst.«
Walja, 34 Jahre, Ulan-Ude, derzeit in Antalya, Türkei, wohin sie mit ihrem Mann nach Kriegsbeginn ausgereist ist
»Ich habe kaum geschlafen die letzten Nächte, wir versuchen mit anderen Freiwilligen der Free Buryatia Foundation, Männer und ihre Angehörigen in Bussen in Sicherheit zu bringen, raus aus Burjatien in die benachbarte Mongolei, solange das eben noch möglich ist. Wir führen Listen mit Namen, organisieren Busse, finden Fahrer, die rüberfahren wollen und können, einer hat zuletzt kurzfristig abgesagt. Die Angst der Menschen ist groß, die meisten sind nicht einmal bereit, uns bei der Organisation von Dokumenten zu unterstützen, die wir für solche Fahrten in die Mongolei benötigen. Es helfen jetzt auch Menschen aus der Mongolei mit, Privatleute, was großartig ist.
Burjatien ist besonders von der Mobilmachung betroffen, viele Männer haben bereits Einberufungsbescheide bekommen. Dabei ist es egal, wie alt sie sind, ob sie überhaupt imstande wären zu kämpfen. Selbst mein Vater hat vor einigen Wochen bereits einen Einberufungsbescheid bekommen, er ist 57 Jahre alt, damit über dem eigentlichen Alter für die Mobilmachung. Er hat mir erst jetzt davon erzählt, der Bescheid ging an eine andere Adresse, wo er noch gemeldet ist. Es sind in diesem Krieg schon so viele Soldaten aus Burjatien gefallen (das Gebiet verzeichnet eine der höchsten Gefallenenzahlen in Russland – d. Red.). Und dennoch wollen immer noch wenige für sich Verantwortung übernehmen, harren aus.
Es ist wahnsinnig schwer, ein Freund von mir zum Beispiel hat größere Angst, Burjatien zu verlassen, als in der Armee in der Ukraine zu kämpfen. Das ist doch verrückt. Andere glauben nach wie vor noch, sie müssten in die Ukraine, um Nazis zu bekämpfen, es sind leider nicht wenige. Wiederum andere Männer wollen nicht ohne ihre Eltern, Frauen und Kinder gehen, wollen deshalb bleiben. Wir versuchen, sie zu überreden zu gehen, alles zu organisieren, dass ihre Familien nachkommen können.«
Ruslan*, 17 Jahre, Schüler aus Moskau
»Ich war am Abend nach Putins Verkünden der Mobilmachung im Zentrum unterwegs, hatte eine Verabredung. Der Alte Arbat war voller Demonstranten und ›Kosmonauten‹ (Bezeichnung für Sonderpolizisten – d. Red.), sie sperrten die Fußgängerzone ab. Ich war neugierig, stellte mich zu einigen Journalisten, machte Bilder. Eine Frau in der Nähe begann, Parolen gegen den Krieg zu rufen, die ›Kosmonauten‹ kamen, schleppten sie weg, nahmen auch mich mit zum Gefangenentransporter. Sie wollten, dass ich ihnen mein Handy gebe, ich weigerte mich, sagte, ich sei minderjährig, müsse meine Eltern anrufen. Sie schlugen mir auf den Kopf, in die Rippen, in den Bauch. Sie wollten meinen Rucksack haben, ich hielt ihn fest, fiel zu Boden, acht Sonderpolizisten traten auf mich ein und schlugen mich. Irgendwann haben sie mich mit meinen Sachen in den Gefangenentransporter geworfen. Wir waren darin zu zwölft.
Auf der Polizeistation war es ruhiger, ich konnte meine Eltern anrufen, mein Vater kam. Doch wir durften nicht gehen. ›Sie müssen noch ein weiteres Verfahren durchlaufen‹, hieß es gegen Mitternacht. Ein wartender Mitarbeiter der Militärbehörde übergab mir eine Vorladung, er sagte, ich müsse zur Einberufungsbehörde, meine persönlichen Daten müssten überprüft werden, dabei bin ich erst 17 Jahre alt. Das war ein ganz klarer Versuch, mich einzuschüchtern. In der Einberufungsbehörde waren sie total erstaunt. ›Wie kann das bei einem minderjährigen Schüler sein?‹, haben sie gefragt, sie haben mich wieder weggeschickt. Leider hat das alles aber noch Folgen, das Jugendamt hat sich in der Schule gemeldet, vermutlich kann ich an keiner guten Universität in Russland mehr einen Studienplatz bekommen. Vielleicht sollte ich ins Ausland gehen.«
Eredschep*, Anfang dreißig, lebt auf der von Russland annektierten Krim
»Ich bin Krimtatare, lebe wie viele andere Krimtataren in der Gegend Saky (an der Westküste Krim – d. Red.). Auffällig ist, dass bei uns im Dorf überwiegend Krimtataren Einberufungsbescheide der Militärbehörden erhalten haben, es waren in den ersten zwei Tagen allein 150, Berichten zufolge gehen 80 Prozent der ausgestellten Einberufungen an Krimtataren. Dabei ist es egal, welchen Beruf die Männer ausüben, wie viele Kinder sie haben, wie alt sie sind. Auch Männer über 50 Jahre erhalten Einberufungsbescheide und Väter mit vier oder mehr Kindern – eigentlich sollen sie von der Mobilmachung ausgenommen sein. Auch aus anderen Orten, in denen Krimtataren wohnen, höre ich diese Geschichten. Hier kennt jeder jeden. Meinen Neffen haben sie auch schon versucht, die Einberufungsbescheide zu übergeben, sie konnten fliehen. Bei mir waren sie zum Glück noch nicht. Es geht darum, uns Krimtataren, Kritiker der Annexion und des Kriegs, an der Front loszuwerden.
Wir wollen nicht gegen die Ukraine kämpfen. Die Menschen stehen unter Schock, sind in Panik. Viele Männer versuchen zu fliehen, das geht nur über die Krimbrücke nach Russland rüber, weiter in den Süden nach Abchasien und Georgien. Doch es gibt viele Kontrollpunkte, die ersten Männer wurden bereits auf der Fahrt gestoppt und festgehalten. Einige versuchen sogar, nach Kasachstan mit dem Auto zu kommen.«
Pawel, 28 Jahre, Bauarbeiter, Moskau
»Nachbarn haben sich gemeldet, erzählt, dass mich Mitarbeiter der Militärbehörde und Polizisten an meiner Meldeadresse gesucht haben. Ich wohne woanders. Wenn sie mich finden, dann gehe ich halt an die Front, ich habe ja nicht viele Möglichkeiten: Krieg oder Gefängnis. Ich würde mich für ersteres entscheiden, ich will nicht ins Gefängnis.
Ich habe den normalen Wehrdienst abgeleistet, keine besondere Kampfausbildung. Das ist nichts, womit man in den Krieg ziehen kann, ich habe nie richtig kämpfen gelernt. Mir jetzt eine Waffe in die Hand zu drücken und zu sagen, dass ich losziehen und töten soll, ergibt überhaupt keinen Sinn. Dafür müsste ich eigentlich monatelang trainiert werden. Wir ehemalige Wehrdienstleistende werden kaum überleben, viele werden einfach in Panik in alle Richtungen schießen.
Ich habe kürzlich einen ehemaligen Mitschüler getroffen. Er hat erzählt, dass sie auf seine Arbeitsstelle gekommen sind, um ihm die Einberufung zu übergeben, jetzt ist er schon auf dem Weg zu seiner Einheit. Er war so durch den Wind, hat gezittert, als er da vor mir stand. Es geht alles so schnell, gibt keine medizinischen Untersuchungen, sie holen dich, sagen ›Nimm zu essen und warme Kleidung mit‹ und bringen dich dann kurz danach zum Bus.
Mein Vater glaubt, die Militärbehörden müssten bald zur Vernunft kommen. Er glaubt noch immer an den gesunden Menschenverstand unseres Staates. Ich weiß es nicht, warte ab, versuche, im Moment zu leben. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich habe Angst oder genieße jetzt mein Abendessen. Wer weiß, vielleicht wird es mein letztes gutes Abendessen sein. Das Essen in der Armee besteht ja vor allem aus Trockenrationen.«
- Der SPIEGEL hat die Namen einiger Gesprächspartner aus Sicherheitsgründen geändert.
Mitarbeit: Katja Lutska, Kyjiw
Was. Zum. F*ck…