Er wollte die Anti-AfD-Proteste in Riesa als parlamentarischer Beobachter begleiten und wurde von der Polizei niedergeschlagen. Wie es dazu kam, erzählt Nam Duy Nguyen. q
Zusammenfassung
ZEIT ONLINE: Sie sind in Riesa aufgewachsen und haben das auch im Landtagswahlkampf in Thüringen im vergangenen Jahr zum Thema gemacht. Riesa sei ihre „Homebase“, sagen Sie in einem Instagram-Video, in dem Sie vorab für die Demonstration gegen den AfD-Parteitag mobilisiert haben: „Rassismus hat nirgendwo Platz, auch nicht in Riesa.“ Welche Bedeutung hatte die Protestaktion für Sie?
Nam Duy Nguyen: Es war besonders für mich, als frisch gewählter Landtagsabgeordneter zurück in meine Heimatstadt zu kommen. Wir sind an meinem alten Hort, an meiner Grundschule vorbeigelaufen. Und dann hatte diese Demonstration natürlich politisch eine riesige Bedeutung. In Riesa wählen vierzig Prozent die AfD. Es bestand die Sorge, dass wir als Antifa-Ufo dort landen und nicht mehr zurücklassen als verdutzte Gesichter. Aber ich habe wahrgenommen, dass viele Leute vor Ort begonnen haben, nachhaltig bestehende Strukturen zu stärken, zum Beispiel die Initiative „Riesa für alle“. Das möchte ich unterstützen.
ZEIT ONLINE: In welcher Rolle haben Sie sich auf der Demonstration gesehen?
Nguyen: Das war mein erster Einsatz als parlamentarischer Beobachter. Auf Demonstrationen haben sie eine wichtige Funktion: Sie achten auf die Einhaltung der Grundrechte. Es gibt aber kein Drehbuch, wie man dabei agieren sollte. Mein Team, also meine drei Mitarbeiter, mein Anwalt und ich, hatten uns zum Ziel gesetzt, deeskalierend auf die Polizei einzuwirken und die Kommunikation zu übernehmen, wenn das von der Versammlungsleitung gewünscht wird. Und das haben wir getan.
ZEIT ONLINE: In einem Video, das ein MDR-Reporter gefilmt hat, sieht man Sie am Boden liegen. Was war zuvor passiert?
Nguyen: Als der Demozug gegen sieben Uhr morgens zum Stehen kam und die Polizei Wasserwerfer vorfuhr, gab es auf einmal eine gefährliche Situation: Tausende Demonstranten wurden Richtung Autobahn und gegen eine schmale Brücke gedrängt. Ich habe versucht, mit der Polizei zu verhandeln, dass sie den Wasserwerfer zurückziehen. Nach zwei Stunden konnte die Demo weiterlaufen, wir sind als Beobachter auf dem Gehweg geblieben.
ZEIT ONLINE: Und dann?
Nguyen: Einige Demonstranten wollten die offizielle Route verlassen und auf eine Seitenstraße ausweichen. Da hat sich eine Einheit der niedersächsischen Polizei sehr rabiat durch die Menge gekämpft, dabei haben sie Demonstranten mit Fäusten auf Höhe von Gesicht und Oberkörper geschlagen. Irgendwann kamen sie auf mich und mein Team zu, wir konnten weder nach hinten noch zur Seite ausweichen, weil überall Menschen waren. Da wurde mir mulmig. Meine Mitarbeiter haben Warnwesten getragen, ich habe meinen Ausweis vor mich gehalten und mehrfach laut gesagt, dass ich parlamentarischer Beobachter bin. Aber dann haben ein oder mehrere Polizisten auf uns eingeschlagen. Ich erinnere mich nicht an den Schlag, aber ich bin umgekippt und hatte Glück, auf einem Strauch zu landen. Sonst wäre ich wohl auf den Asphalt geknallt.
ZEIT ONLINE: Wie geht es Ihnen jetzt?
Nguyen: Ich habe nach wie vor Schmerzen am Jochbein und am Kiefer, aber der Schock hat sich erstmal gelegt.
ZEIT ONLINE: Was waren Ihre ersten Gedanken unmittelbar nach dem Sturz?
Nguyen: Ich wusste vom ersten Moment, als ich wieder klar denken konnte: Das ist ein mittelschwerer Skandal. Wenn ein parlamentarischer Beobachter als neutrale Instanz, der dazu da ist, das polizeiliche Verhalten zu beobachten, plötzlich von eben der Polizei ausgeknockt wird, hat die Demokratie ein Problem.
ZEIT ONLINE: Laut Polizeisprecher sei die Lage am Samstag überwiegend friedlich und die Beamten „entspannt“ gewesen. Die Veranstalter hingegen sprechen von Polizeigewalt, Demonstranten seien mit Schlagstöcken angegangen worden. Ein Video zeigt, wie ein Polizist seinen Hund gegen einen Demonstranten rammt. Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Polizei?
Nguyen: Mein Eindruck ist, dass die Demo ruhig vonstatten ging, bis der Demozug nicht weiterlaufen konnte und der Wasserwerfer vorgefahren wurde. Natürlich ist dieser Eindruck nur subjektiv, das Netz war schlecht und ich habe erst später von allen anderen Vorfällen erfahren. Die Videos geben nur einen Ausschnitt wieder, aber was sie zeigen, ist: Protest war nur dort möglich, wo er nicht störte, und wo er störte, wurde er zum Teil durch brutale Polizeigewalt eingeschränkt. Nur deswegen konnte der Parteitag stattfinden. Ob es verhältnismäßig ist, wenn auch friedliche Demonstrantinnen von der Polizei angegriffen werden, würde ich infrage stellen. Und unabhängig davon, ob ich Abgeordneter bin oder nicht: Menschen ins Gesicht zu schlagen, überschreitet eine rote Linie.
ZEIT ONLINE: Der Dresdner Polizeipräsident Lutz Rodig hat sich öffentlich bei Ihnen entschuldigt: Es sei sicher nicht die Intention der Polizei gewesen, einem Abgeordneten und dessen Begleiter zu schaden. Nehmen Sie diese Entschuldigung an?
Nguyen: Ich nehme sie erst einmal zur Kenntnis. Die Aufarbeitung der Ereignisse wird zeigen, wie viel Wille wirklich da ist, für solche Vorfälle geradezustehen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Innenminister von Sachsen hat immerhin angekündigt, den Fall aufzuarbeiten. Aber der Vorfall sollte auch auf Bundesebene diskutiert werden. Meine Erwartung ist, dass sich die Innenministerin Nancy Faeser dazu verhält. Der Vorfall zeigt, wir brauchen dringend eine unabhängige Beschwerdestelle für Polizeigewalt. Wenn ich mir die Kräfteverhältnisse im sächsischen Parlament anschaue, mit einer starken CDU und einer starken AfD, bin ich allerdings skeptisch, dass die auch tatsächlich eingerichtet wird.
ZEIT ONLINE: Manche sagen nun, dass Proteste gegen die AfD in dem Ausmaß wie in Riesa auch kritikwürdig sind. Schließlich habe die Partei das Recht auf ein Treffen zur politischen Willensbildung.
Nguyen: Es ist das Recht der AfD, sich zu versammeln. Aber aus meiner Sicht wäre es doch gelacht in einem Land, in dem das Credo „Nie wieder“ gilt, sich nicht aus Zivilcourage heraus gegen eine faschistische Partei zu stemmen. Björn Höcke, die Correctiv-Recherche: Das ist alles nur die Spitze des Eisbergs. In der AfD werden Nazikader finanziert, da gibt es Verbindungen in die neonazistische Szene. Dass man dagegen Widerstand ausübt, indem man einen Parteitag durch zivilen Ungehorsam stört, finde ich legitim.
ZEIT ONLINE: Welches Fazit ziehen Sie insgesamt aus der Demonstration am Samstag?
Nguyen: Das war ein Punktsieg für den Antifaschismus, davon bin ich überzeugt. Wir erleben gerade eine zunehmende Akzeptanz der AfD und eine Übernahme ihrer Positionen: Wenn Friedrich Merz davon spricht, dass straffällige Doppelstaatler ausgebürgert werden sollten, dann ist das genau das, wogegen im Januar 2024 noch Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Wir müssen wieder dahin kommen, dass die AfD zum Skandal wird. In Riesa hat am Wochenende ein breites Bündnis friedlich demonstriert: Da waren Gewerkschafterinnen, Omas gegen rechts, und für einen Antifa-Protest in Ostdeutschland auch erstaunlich viele migrantische Menschen. Ich bin froh, dass so viele die Erfahrung gemacht haben, dass es sich lohnt, sich um zwei Uhr nachts aus dem Bett zu schälen und sich den Rechten zu widersetzen.