Wir leben in einer Zeit, in der Moral zu einem sehr hohen Gut erkoren wurde. Das ist im Grundsatz eine sehr gute Entwicklung, denn endlich befassen wir uns mit Dingen, die schon sehr lange im Argen liegen. Themen wie Rassismus, Sexismus oder die Diskriminierung marginalisierter Gruppen rücken immer mehr in die Mitte der Gesellschaft und werden, vor allem unter moralischen Gesichtspunkten, thematisiert. Außerdem wird versucht, diese produktiv anzugehen.
Das führt dazu, dass sich diese Themen und die damit einhergehenden moralischen Fragen zunehmend mehr Menschen ins Bewusstsein drängen und diese dazu bringen, sich Gedanken zu machen und gegebenenfalls Stellung zu beziehen, worin meines Erachtens jedoch auch das Problem fußt.
Wir Menschen leben nämlich in dem Glauben, wir täten schon das Richtige. Wir erschaffen in der Regel ein Bild unseres Selbst, das aus unseren Erfahrungen und Überzeugungen gewachsen ist und das, so es denn einmal geformt wurde, häufig sehr statisch durch unser Dasein hindurch besteht. Die Zahl jener, die dieses Bild der eigenen Person regelmäßig reflektieren und gegebenenfalls anpassen, ist verhältnismäßig klein. Wir sind Gewohnheitstiere und umgeben uns mit anderen Menschen, bei denen wir uns und unser Selbstbild gut aufgehoben fühlen.
In dieser sich selbst Bestätigung verschaffenden Blase lässt es sich also sehr gut leben, ohne die eigenen Ideale, Werte und Handlungen zu hinterfragen, weshalb viele mit fortschreitendem Alter eingefahren erscheinen und sich schwertun, Neues zu akzeptieren. Je älter wir werden, umso höher also die Wahrscheinlichkeit, dass wir unser gewohntes Muster nicht mehr verlassen. Denn je später wir uns eingestehen, dass wir uns in gewissen Dingen geirrt haben könnten, umso länger war der Zeitraum, in dem wir ein Leben lebten, das vielleicht doch nicht so gut war, wie wir es uns selbst immer wieder bestätigt hatten.
Wir müssen nur mal selbst in uns gehen und uns die Frage stellen, ob wir tatsächlich so ohne Weiteres dazu in der Lage wären, unser bisheriges Leben und unsere Überzeugungen über Bord zu werfen und uns einen großen Irrtum einzugestehen. Vermutlich werden die Wenigsten von uns diese Frage mit „Ja“ beantworten. Entsprechend versuchen viele der jüngeren Generationen heutzutage schon so früh wie möglich, ihren moralischen Kompass „richtig“ auszurichten und sich so zu positionieren, dass sie im weiteren Verlauf ihres Lebens die Notwendigkeit einer 180°-Wende vermeintlich ausschließen können. Das heißt für die progressiven, tendenziell politisch links verorteten Individuen, dass sie die eingangs erwähnten Punkte – Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen – vehement ablehnen und sich klar und vor allem öffentlich (Instagram, Twitter etc.) dazu positionieren.
Das Resultat dieser Moraloffensive ist dann, dass man sich in neuen Blasen zusammenfindet, in denen die Moral und die vermeintlich richtige Position die höchsten aller Güter darstellen. Dadurch entsteht jedoch etwas, das wir nur allzu gut kennen: ein Wettbewerb. Alle wollen die beste Ansicht vertreten und sich bloß keine moralischen Verfehlungen zuschreiben lassen. Jede davon abweichende oder auf den ersten Blick weniger klare Haltung wird als weniger moralisch erachtet und die Menschen, die diese Haltung vertreten, werden gleichsam zu weniger moralischen degradiert. Damit überhöhen sich diese „Moralapostel“ selbst, denn sie stellen sich und ihre Überzeugungen eine Stufe über die der anderen, und verkommen so von moralischen Menschen zu Moralist:innen.
Ein erhobener Zeigefinger war noch nie sympathisch und das ist er auch in Fragen der Moral nicht. Niemand möchte von oben herab belehrt und als schlechter Mensch dargestellt werden – das führt zu Grabenkämpfen und im schlimmsten Fall zur Abkehr von einer eigentlich moralisch guten Idee. Zudem scheint die Grenze zwischen Fehlbarkeit und böser Absicht zunehmend zu verschwimmen. Menschen, die viele gute Gedanken haben, sich im Grundsatz recht und ordentlich verhalten, werden aufgrund von einer Aussage von einem Mob von Moralist:innen „gecanceled“. Man versucht also nicht, diese Aussage zu hinterfragen oder zu kritisieren, es wird stattdessen die Person im Ganzen als unmoralisch dargestellt. Dabei lässt man zu schnell außer Acht, dass Aussagen einerseits immer im Kontext gesehen werden müssen, andererseits ignoriert man aber auch, dass es die eine Wahrheit oft gar nicht gibt. Es kann zu einem Thema viele verschiedene Meinungen geben und wenn diese nicht gänzlich menschenverachtend sind, gilt es auch diese zu akzeptieren.
Wer glaubt, die einzig wahre Wahrheit zu besitzen und den einzig vertretbaren moralischen Ansatz zu verfolgen, irrt gewaltig und ist schon durch die eigene Überhöhung und die damit einhergehende Herabsetzung anderer auf einem moralisch fragwürdigen Pfad. Dieser Moralismus ist es, der aus moralisch nachvollziehbaren Ideen schnell Fanatismen werden lässt, die den Positionen der Anhänger:innen eine Paradoxie zukommen lassen, die sie selbst nicht erkennen. Zu viele stecken in einem Modus des infantilen Egozentrismus fest, ohne zu merken, dass die eigene Reflektiertheit bei ihnen selbst endet. Und ob man sich unter diesen Umständen als moralischen Menschen bezeichnen kann, steht ebenso zur Debatte wie die vermeintlich falschen Standpunkte jener, die man nur allzu gerne kritisiert.